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Die vergessene Orientalische Frage – Warum uns das 19. Jahrhundert heute noch angeht

Matthias Frölich, 8. November 20258. November 2025

Als Karl May 1892 seinen Helden Kara Ben Nemsi diese Frage stellen ließ, war die Antwort so treffend wie lakonisch: »Dass sie nicht mit einem Frage-, sondern mit einem Ausrufzeichen zu markieren ist.«1Karl May: Von Bagdad nach Stambul. Freiburg 1892 (= Carl May’s gesammelte Reiseromane Bd. 3), S. 449f.

Was May hier mit feiner Ironie auf den Punkt brachte, beschäftigte die europäische Diplomatie über zwei Jahrhunderte lang intensiver als jeder andere Konflikt. Heute ist die »Orientalische Frage« aus unserem kollektiven Gedächtnis verschwunden – zu Unrecht, wie die jüngsten Ereignisse zeigen.

Der Kosovo, die Krim und das Echo der Geschichte

Februar 2008: Das Kosovo erklärt seine Unabhängigkeit von Serbien. Die Großmächte sind gespalten, Russland protestiert heftig, die EU ringt um eine gemeinsame Position. Die Parallelen zum 19. Jahrhundert sind frappierend: Wieder wird eine Balkankrise von den Großmächten instrumentalisiert, um andere Konflikte auszutragen – Russland nutzt sie in der Auseinandersetzung mit den USA um Raketensysteme und Abrüstung, Spanien und andere EU-Staaten fürchten Rückwirkungen auf eigene Separationsbewegungen.2Zur Aktualität der Orientalischen Frage vgl. Winfried Baumgart: Die »Orientalische Frage« – redivivus? Große Mächte und kleine Nationalitäten 1820–1923. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 28 (1999), S. 33–55.

2014: Russland annektiert die Krim. Die Ukraine-Krise erschüttert die europäische Ordnung.

2022: Ein Krieg mitten in Europa, wieder geht es um Einflusssphären, wieder prallen Großmachtinteressen aufeinander.

Wer diese Ereignisse verstehen will, kommt um einen Blick ins 19. Jahrhundert nicht herum. Denn was wir heute erleben, sind die Nachbeben jenes gewaltigen tektonischen Verschiebens, das damals »Orientalische Frage« genannt wurde.

Was war eigentlich diese »Orientalische Frage«?

Die »Orientalische Frage« bezeichnet den Gesamtkomplex aller Probleme und Konflikte, die sich im Zusammenhang mit dem Zerfall und dem Rückzug des Osmanischen Reiches aus Europa seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert ergaben.3Zum Begriff und seiner Bedeutung siehe Matthew S. Anderson: The Eastern Question 1774–1923. A Study in International Relations. London 1966, S. xiii–xvi; Alec L. Macfie: The Eastern Question 1774–1923. Revised Edition. London 1996, S. 1–8. Doch betraf diese Frage nicht das Osmanische Reich allein. Durch eigene Interessen auf dem Balkan und im östlichen Mittelmeerraum wurden die Großmächte Europas in den Zerfallsprozess verwickelt und gerieten miteinander in Konflikte.

Mit den im 19. Jahrhundert aufkeimenden griechischen, serbischen, rumänischen und bulgarischen Nationalbewegungen in Südosteuropa, das im damaligen Verständnis zum Orient zählte, beschleunigte sich der Zerfallsprozess. Die Orientalische Frage war damit ein hochkomplexes Geflecht aus:

Machtpolitik: Russland drängte ans Mittelmeer, Österreich-Ungarn wollte seinen Einfluss auf dem Balkan sichern, Großbritannien fürchtete um seine Indien-Route, Frankreich suchte Prestige und Einfluss im östlichen Mittelmeer.4Zu den Interessen der Großmächte vgl. Lothar Gall: Die europäischen Mächte und der Balkan im 19. Jahrhundert. In: Der Berliner Kongress von 1878. Die Politik der Großmächte und die Probleme der Modernisierung in Südosteuropa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hrsg. v. Ralph Melville/Hans-Jürgen Schröder. Wiesbaden 1982, S. 1–16.

Nationalismus: Griechen, Serben, Rumänen, Bulgaren – alle strebten nach Unabhängigkeit und eigenem Nationalstaat. Der Balkan wurde zum Pulverfass Europas.

Religion: Orthodoxe Christen gegen Muslime, katholische gegen orthodoxe Christen – die Religionsfrage war stets präsent und wurde von den Großmächten instrumentalisiert.

Wirtschaft: Handelswege, Rohstoffe, strategische Häfen – der Orient war auch wirtschaftlich begehrt.

Das Krisenkarussell

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Alle fünfzehn bis zwanzig Jahre kam es zu einem russisch-türkischen Krieg, alle sieben bis zehn Jahre ereigneten sich größere Aufstände und alle ein bis zwei Jahre brachen Unruhen aus.5Vgl. Winfried Baumgart: Vom Europäischen Konzert zum Völkerbund. Friedensschlüsse und Friedenssicherung von Wien bis Versailles. 2. Aufl. Darmstadt 1987 (= Erträge der Forschung Bd. 25), S. 21f.

Die Orientalische Frage war damit das bedeutendste Problem der internationalen Beziehungen im 19. Jahrhundert und band die Energien der europäischen Staatsmänner mehr als alle anderen Konflikte.6So die Einschätzung bei J.A.R. Marriott: The Eastern Question. A Historical Study in European Diplomacy. 4. Aufl. Oxford 1940, S. vii: »No problem of international politics has occupied a larger space in European diplomacy during the last two centuries«. Und mittendrin: Otto von Bismarck, der preußische Ministerpräsident und spätere Reichskanzler, der die Orientfrage meisterhaft für seine Zwecke zu nutzen verstand.

Diese historische Karikatur aus dem 19. Jahrhundert trägt den Titel "Zur orientalischen Frage" und thematisiert die politische Schwäche des Osmanischen Reiches, das hier als "kranker Mann am Bosporus" dargestellt wird. Im Zentrum der Szene liegt ein Mann – symbolisch für das Osmanische Reich – entkräftet auf einem Krankenlager. Um ihn herum versammeln sich vier Männer, die als Ärzte die europäischen Großmächte verkörpern: Russland, Großbritannien, Frankreich und Preußen. Jeder von ihnen scheint sich um den "Patienten" zu kümmern. Die Bildunterschrift unterstreicht die Dramatik der Lage: "Die Lage des 'kranken Mannes' ist wieder einmal eine so verzweifelte, dass sie nächstens eine Konsultation seiner Ärzte veranlassen wird." Damit wird die Sorge der europäischen Staaten um die Zukunft des Reiches ironisch kommentiert – weniger aus Mitgefühl, als vielmehr aus strategischem Kalkül.
Karikatur aus dem Kladderadatsch Nr. 46 vom 7. Oktober 1866

Bismarcks Gleichgültigkeit?

»Die ganze orientalische Frage ist nicht die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert« – Bismarcks berühmter Ausspruch aus dem Jahr 1876 charakterisiert seine Haltung zum Orient treffend.7Bismarck in der Reichstagssitzung vom 5. Dezember 1876, zitiert nach: Fürst Bismarck. Neue Tischgespräche und Interviews. Hrsg. v. Heinrich von Poschinger. Stuttgart 1895, S. 193. Die genaue Formulierung variiert in verschiedenen Überlieferungen. Doch diese demonstrative Gleichgültigkeit war keine Ignoranz, sondern kühles Kalkül.

Bismarcks Desinteresse an der Orientalischen Frage hatte System. Bereits 1863 hatte er seinem Vorgesetzten geschrieben: »Ich gestehe offen, dass die orientalischen Dinge mir viel mehr gleichgültig sind als […] irgend einem anderen Edelmann vom christlichen Abendlande.«8Bismarck an König Wilhelm I., 23. März 1863. In: Die auswärtige Politik Preußens 1858–1871. Diplomatische Aktenstücke. Hrsg. v. d. Historischen Reichskommission. Bd. 3, Nr. 336, S. 396. Diese Haltung ermöglichte ihm paradoxerweise, die Orientkrisen umso effektiver für seine Zwecke zu nutzen.

Während sich die anderen Großmächte im Orient verstrickten und gegeneinander ausgespielt werden konnten, nutzte Bismarck diese Ablenkung für sein großes Projekt: die deutsche Einigung unter preußischer Führung. Die Jahre 1866-1871, die Reichsgründungszeit, zeigen exemplarisch, wie geschickt Bismarck die Orientkrisen für seine Zwecke instrumentalisierte.

Warum ist das heute vergessen?

Es ist paradox: Während die Orientalische Frage das 19. Jahrhundert dominierte, ist sie heute selbst Historikern oft nur noch ein Randthema.9Eckehard Koch konstatierte bereits 1991: »Die Orientalische Frage [ist] heutigen Lesern von Abenteuerromanen, anders als Ende des 19. Jahrhunderts, kein Begriff mehr«. Koch: »Was haltet Ihr von der orientalischen Frage?« Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund von Mays Orientzyklus. In: Karl Mays Orientzyklus. Hrsg. v. Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer. Paderborn 1991, S. 64. Die Gründe:

Komplexität: Die Orientalische Frage ist verzwickt. Dutzende Akteure, sich ständig ändernde Allianzen, parallele Krisenherde – das überfordert unser auf einfache Narrative getrimmtes Geschichtsbild.

Der Kalte Krieg: Nach 1945 überlagerte die Ost-West-Konfrontation alle älteren Konfliktlinien. Die Orientalische Frage schien erledigt.

Eurozentrismus: Wir haben uns angewöhnt, Geschichte aus westeuropäischer Perspektive zu erzählen. Der Balkan, der Orient – das war »Peripherie«.

Die Orientalische Frage ist nicht vorbei

Doch die alten Bruchlinien sind noch da. Der Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren, die Kriege auf dem Balkan, die Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo, der Konflikt um die Krim und die Ukraine – all das sind Fortsetzungen der alten Orientalischen Frage.

Die Welt stellte 2008 unter dem Titel »Vorwärts ins 19. Jahrhundert!« fest, dass sich die Situationen erstaunlich ähneln.10Die Welt, 18. Februar 2008. Anlässlich des Irakkrieges 2003 führte Jörg von Uthmann sogar ein fiktives »Exklusiv-Interview mit Altreichskanzler Otto von Bismarck« zur Bedeutung der Orientfrage für die aktuelle deutsche Politik. In: Die Welt, 31. Dezember 2003. Wenn heute Russland und »der Westen« um Einflusssphären ringen, wenn die Türkei eine neo-osmanische Politik betreibt, wenn auf dem Balkan wieder nationalistische Töne angeschlagen werden – dann erleben wir die Orientalische Frage 2.0.

Was können wir daraus lernen?

Die Geschichte der Orientalischen Frage lehrt uns:

  1. Krisen können instrumentalisiert werden – Bismarck zeigte, wie man internationale Krisen für eigene Ziele nutzen kann, ohne sich in sie zu verstricken.
  2. Multilaterale Diplomatie funktioniert – Das »Europäische Konzert« der Großmächte verhinderte trotz aller Krisen über Jahrzehnte einen großen Krieg.11Zum System des Europäischen Konzerts siehe Winfried Baumgart: Vom Europäischen Konzert zum Völkerbund, S. 1–18.
  3. Ungelöste Probleme verschwinden nicht – Die ethnischen und religiösen Konfliktlinien des Balkans sind auch nach 200 Jahren nicht überwunden.
  4. Geographie ist Schicksal – Die strategische Lage zwischen Europa, Asien und Afrika macht den Balkan und den östlichen Mittelmeerraum dauerhaft zur Konfliktzone.

Der Blick nach vorn

In den kommenden Beiträgen werde ich Sie mitnehmen auf eine Reise in die Jahre 1866-1871. Wir werden sehen, wie Bismarck während der deutschen Einigungskriege die Orientalische Frage für seine Zwecke nutzte. Wie er Frankreich und Österreich gegeneinander ausspielte, Russland bei Laune hielt und Großbritannien neutralisierte.

Es ist eine Geschichte voller diplomatischer Winkelzüge, überraschender Wendungen und – ja, auch das – erstaunlicher Parallelen zur Gegenwart. Von der Hohenzollern-Kandidatur für den rumänischen Thron über die Kreta-Krise bis zur Schwarzmeerfrage – wir werden die großen und kleinen Schachzüge der Machtpolitik nachvollziehen.

Und vielleicht verstehen wir am Ende besser, warum Karl May recht hatte: Die Orientalische Frage verdient tatsächlich ein Ausrufezeichen. Denn sie ist nicht Geschichte – sie ist Gegenwart.


Im nächsten Beitrag: »Das große Schachspiel – Die Großmächte und der kranke Mann am Bosporus«. Wie funktionierte das Europäische Konzert nach dem Krimkrieg? Welche Interessen verfolgten die Großmächte? Und warum wurde der Balkan zum Pulverfass Europas?

  • 1
    Karl May: Von Bagdad nach Stambul. Freiburg 1892 (= Carl May’s gesammelte Reiseromane Bd. 3), S. 449f.
  • 2
    Zur Aktualität der Orientalischen Frage vgl. Winfried Baumgart: Die »Orientalische Frage« – redivivus? Große Mächte und kleine Nationalitäten 1820–1923. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 28 (1999), S. 33–55.
  • 3
    Zum Begriff und seiner Bedeutung siehe Matthew S. Anderson: The Eastern Question 1774–1923. A Study in International Relations. London 1966, S. xiii–xvi; Alec L. Macfie: The Eastern Question 1774–1923. Revised Edition. London 1996, S. 1–8.
  • 4
    Zu den Interessen der Großmächte vgl. Lothar Gall: Die europäischen Mächte und der Balkan im 19. Jahrhundert. In: Der Berliner Kongress von 1878. Die Politik der Großmächte und die Probleme der Modernisierung in Südosteuropa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hrsg. v. Ralph Melville/Hans-Jürgen Schröder. Wiesbaden 1982, S. 1–16.
  • 5
    Vgl. Winfried Baumgart: Vom Europäischen Konzert zum Völkerbund. Friedensschlüsse und Friedenssicherung von Wien bis Versailles. 2. Aufl. Darmstadt 1987 (= Erträge der Forschung Bd. 25), S. 21f.
  • 6
    So die Einschätzung bei J.A.R. Marriott: The Eastern Question. A Historical Study in European Diplomacy. 4. Aufl. Oxford 1940, S. vii: »No problem of international politics has occupied a larger space in European diplomacy during the last two centuries«.
  • 7
    Bismarck in der Reichstagssitzung vom 5. Dezember 1876, zitiert nach: Fürst Bismarck. Neue Tischgespräche und Interviews. Hrsg. v. Heinrich von Poschinger. Stuttgart 1895, S. 193. Die genaue Formulierung variiert in verschiedenen Überlieferungen.
  • 8
    Bismarck an König Wilhelm I., 23. März 1863. In: Die auswärtige Politik Preußens 1858–1871. Diplomatische Aktenstücke. Hrsg. v. d. Historischen Reichskommission. Bd. 3, Nr. 336, S. 396.
  • 9
    Eckehard Koch konstatierte bereits 1991: »Die Orientalische Frage [ist] heutigen Lesern von Abenteuerromanen, anders als Ende des 19. Jahrhunderts, kein Begriff mehr«. Koch: »Was haltet Ihr von der orientalischen Frage?« Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund von Mays Orientzyklus. In: Karl Mays Orientzyklus. Hrsg. v. Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer. Paderborn 1991, S. 64.
  • 10
    Die Welt, 18. Februar 2008. Anlässlich des Irakkrieges 2003 führte Jörg von Uthmann sogar ein fiktives »Exklusiv-Interview mit Altreichskanzler Otto von Bismarck« zur Bedeutung der Orientfrage für die aktuelle deutsche Politik. In: Die Welt, 31. Dezember 2003.
  • 11
    Zum System des Europäischen Konzerts siehe Winfried Baumgart: Vom Europäischen Konzert zum Völkerbund, S. 1–18.
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