Der Brauch, den Abschluss der Ernte besonders zu feiern, fand sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert in ähnlicher Form in fast ganz Europa. In Deutschland, Frankreich, England, Belgien, den Niederlanden und der Schweiz schmückten die Bauern den Wagen, der mit den letzten Garben beladen war, mit Bändern, Blumen oder grünen Zweigen.[1. Vgl. Wilhelm Mannhardt, Wald- und Feldkulte. Bd. 1: Der Baumkultus der Germanen, 2. Aufl., Berlin 1904, S. 190-193.]
Der Volkskundler Wilhelm Mannhardt beschrieb jedoch, dass sich in einer Region ein ganz spezieller Erntebrauch beobachten lasse: In Westfalen »hebt sich als eigenartig derjenige Landstrich hervor, welcher den Namen Härkelmai (mundartl. Hörkelmai, Hackelmai, Hakelmai, Hekelmai, Håkelmai, Harkemai, Hackemai) kennt. Er umfaßt die Kreise Altena, Dortmund, Hagen, Hamm, Iserlohn, Meschede, Olpe und Soest des Regierungsbezirks Arnsberg und reicht einerseits in das Münsterland, andererseits in den Kreis Lennep Rgbz. Düsseldorf hinein.«[1. Ebd., S. 194.]
Mannhardt zog seine Kenntnisse aus einer großen volkskundlichen Befragung, die er im Jahr 1865 begann. Dazu erstellte er einen aus 35 detaillierten Fragen bestehenden Bogen und sammelte mehr als 2.000, zum Teil sehr ausführliche Antworten aus dem ganzen Gebiet des damaligen Deutschen Reichs.[2. Ingeborg Weber-Kellermann, Erntebrauch in der ländlichen Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts. Auf Grund der Mannhardtbefragung in Deutschland 1865, Marburg 1965, S. 30. Ein Abdruck des Mannhardt-Fragebogens findet sich in Wilhelm Mannhardt, Die Korndämonen. Beitrag zur germanischen Sittenkunde, Berlin 1868, S. 44-48.] Mannhardt wertete das umfangreiche Material aus und sah insbesondere in den Erntetraditionen Überreste germanischer Wald- und Feldkulte, die sich seiner Ansicht nach bis ins 19. Jahrhundert gehalten hatten. Auch wenn der mythologische Ansatz der Befragung nach dem heutigen Stand der Forschung als antiquiert anzusehen ist, war Mannhardts Fragebogen selbst indes methodisch überaus durchdacht und ›modern‹. Die knapp fünfzig Antwortschreiben, die aus Westfalen eingingen und die Mannhardt auswertete, bieten deshalb durchaus aufschlussreiches Material.[3. Da der Aufwand für eine Sichtung des Mannhardt-Nachlasses im Archiv zu groß gewesen wäre, wurde auf die Schriften Mannhardts und die bei Weber-Kellermann und Sartori behandelten westfälischen Beispiele zurückgegriffen.] Weitere Quellen finden sich im Archiv der Volkskundlichen Kommission für Westfalen in Münster. Hier wurden zahlreiche Manuskriptseiten archiviert, die als Antworten auf eine »Frageliste« aus den 1950er und 1960er Jahren zum Thema »Getreideernte« in verschiedenen westfälischen Ortschaften verfasst wurden.
Anhand dieser Quellen und der sie auswertenden Literatur soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, Art und Bedeutung des Harkemai-Brauches für Westfalen und speziell den Raum Hamm im 19. und 20. Jahrhundert zu untersuchen.
Beginn der Ernte
Die Getreideernte begann in Westfalen meist um Jakobi am 25. Juli.[4. Bericht zur Getreideernte, Hattrop, 13.6.1957 (AVKW, MS01136); Paul Sartori, Westfälische Volkskunde, 2. Aufl., Leipzig 1929, S. 117.] Die erste Garbe wurde in Anröchte festlich auf den Hof getragen und dem Haushahn hingelegt. War die Verpflegung sonst eher karg – drei tägliche Mahlzeiten, darunter Grütze um sechs oder sieben Uhr, Suppe, Gemüse und auch Fleisch um zwölf Uhr –, so gab es während der Ernte üppigere Mahlzeiten.[5. Sartori, Volkskunde, S. 108, 117.]
Wenn ein fremder Besucher oder der Gutsherr das Feld betrat, auf dem gerade geschnitten wurde, verletzte er damit das »Platzrecht«[6. Weber-Kellermann, Erntebrauch, S. 258.] der Feldarbeiter. Dann wurden ihm mit einem Bündel Stroh die Schuhe geputzt, wofür sich dieser mit Bier oder Branntwein loskaufen musste.[7. Bericht zur Getreideernte, Hattrop, 13.6.1957 (AVKW, MS01136); vgl. auch Sartori, Volkskunde, S. 117.] Dies war vor allem zwischen Lippe und Ruhr verbreitet, also in einer Region, in der Wanderarbeiter aus dem westfälischen Ruhrgebiet während der Ernte tätig wurden. Der ursprünglich aus dem Handwerker- und Bergmannsmilieu stammende Brauch setzte sich vermutlich auf diese Weise auch auf dem Land durch. Aus der Soester Börde sowie aus Herringen, Hilbeck und Uentrop ist ein Gedicht überliefert, das beim Schuheputzen aufgesagt wurde: »Ihnen zur Ehre und mir zum Nutzen will ich Ihnen die Schuhe putzen, doch nicht um die Ehre allein, sondern um eine halbe Kanne Branntwein!«[8. Weber-Kellermann, Erntebrauch, S. 258f.]
Der letzte Schnitt
Wenn das letzte Getreide auf dem letzten Acker gemäht war, schlugen die Schnitter jubelnd und trinkend einen Ast oder Baum und gruben ihn tief in das Feld.[9. Bericht zur Getreideernte, Hattrop, 13.6.1957 (AVKW, MS01136).] Dies konnte eine Buche, Birke oder auch Weide sein. Laut Mannhardt fiel dieser Harkemaibaum oft recht stattlich aus: Er war zum Teil etwa zwölf Zentimeter dick, wurde etwa ein bis zwei Meter in die Erde eingegraben, verkeilt und hatte über der Erde eine Größe von fünf bis zehn Metern.[10. So in Herringen, Werl und Paradiese. Mannhardt, Wald, S. 195.] Die Spitze des Baumes zierte ein Kranz, der aus den letzten zusammengeharkten Ähren gebunden wurde.[11. Herringen, Hilbeck und Haren. Ebd.] Es gab in einigen Orten auch den Brauch, dass jeder Schnitter und jede Magd einige Halme um den Baum banden, sodass zu erkennen war, wie viele Personen an der Ernte beteiligt gewesen waren.[12. Borgeln und Körbecke. Ebd., S. 196.] Auch wurde zum Teil die letzte gebundene Garbe am Harkemaibaum aufgehängt und erhielt den Namen »de Olle« (der Alte) – damit sollte, so Mannhardt, die Vegetationskraft des Feldes personifiziert werden.[13. Dortmund-Wickede, Brackel, Paradiese. Ebd.; vgl. Sartori, Volkskunde, S. 117.] In Osterbönen wurde die mit Blumen geschmückte Garbe der Frau des Hauses überbracht. »Hatte man Mißhelligkeiten mit dieser, wurde die Garbe mit Disteln versehen.«[14. Bericht zur Getreideernte, Osterbönen, 10.1967 (AVKW, MS02911).]
Der Name »Harkemai« rührt nach Mannhardt von den letzten auf dem Feld verstreut liegenden Halmen her, die zusammengeharkt wurden. Mit diesem »Harkelse« schmückte man den Harkemaibaum oder man lud es zusammen mit dem Baum auf das letzte Fuder.[15. Mannhardt, Wald, S. 194-195; in Anlehnung an Mannhardt Weber-Kellermann, Erntebrauch, S. 261.] An verschiedenen Orten Westfalens wurde das Fuder, der Kranz oder Busch und auch das nachfolgende Erntefest »Harkemai«, »Harkelmei«, »Hörkelmai«, »Hiärkemai« oder auch »Hackemai« genannt.[16. Sartori, Volkskunde, S. 119; Weber-Kellermann, Erntebrauch, S. 261.]
Das letzte Fuder
Der Harkemaibaum blieb auf dem Feld stehen, bis alle Garben gebunden und aufgeladen waren. Das letzte Fuder wurde wiederum besonders gefeiert. Oft spannte man als Statussymbol alle Pferde, die der Bauer besaß, vor diesen Wagen.[17. Dröschede bei Iserlohn, Bericht zur Getreideernte, Oestrich, 8.8.1955 (AVKW, MS00661); vgl. Sartori, Volkskunde, S. 118. Gutsbesitzer ließen sogar sechsspännig mit allem Gesinde zum Einholen des letzten Fuders auf den Acker fahren. Weber-Kellermann, Erntebrauch, S. 263.] Wenn das letzte Fuder zum Abtransport fertig war, mussten die Frauen den Harkemaibaum umwerfen und durften dazu nur ihre Hände gebrauchen.[18. Herringen, Fröndenberg, Haren, Hilbeck, Friedrichshöhe, Werl und Schwefe. Mannhardt, Wald, S. 196.] Der Harkemaibaum wurde dann auf den mit grünen Zweigen geschmückten Wagen aufgeladen.[19. Soest, Paradiese, Schwefe, Borgeln, Friedrichshöhe und Lünern. Ebd.] Die Mägde setzten sich mit dem Erntekranz auf das Fuder, der Zug setzte sich in Bewegung. Die Schnitter und Mägde fuhren mit dem geschmückten Fuder »singend und johlend«[20. Paul Sartori, Sitte und Brauch, Leipzig 1911, S. 90.] zum Hof. Bei der Ankunft auf dem Hof wurden der Harkemaibaum und die Erntearbeiter mit Wasser begossen, denn »de hörkelmai draf net dröj inkommen«.[21. So ein Spruch aus Brockhausen. Mannhardt, Wald, S. 197. Bericht zur Getreideernte, Oestrich, 8.8.1955 (AVKW, MS00661); vgl. Sartori, Volkskunde, S. 119.] Der Harkemaibaum wurde, wenn das Fuder eingefahren war, an der Scheune angeschlagen. Dort blieb er hängen, bis das anschließende Festessen beendet war, das zum Teil auch erst im Herbst erfolgte, wenn »die erste fette Kuh geschlachtet wurde.«[22. Mannhardt, Wald, S. 197.] Den Erntekranz hängte man über der Haustür auf, wo er bis zur Ernte des folgenden Jahres hängen blieb.[23. Hilbeck, Ostbühren. Ebd. Vgl. Sartori, Volkskunde, S. 119.]
In einigen Ortschaften wurde statt des Baumes eine geschmückte Harke auf das letzte Fuder gesteckt. Sartori leitet den Namen »Harkemai« daher – anders als Mannhardt – von dieser mit grünen Zweigen geschmückten Harke ab.[24. Ebd., S. 118. In Rheinermark bei Schwerte wurde »Härkemai« sogar mit »ich bin des Harkens müde« übersetzt. Bericht zur Getreideernte, Rheinermark, 10.6.1959 (AVKW, MS01540).] Auf dem Hof angekommen mussten der Oberknecht oder die Magd diese Harke trocken auf die Deele oder unter die Herdkappe bringen, während die Hausmagd oder die Bäuerin versuchte, sie mit Wasser zu begießen. Die geschmückte Harke wurde dann zunächst am Herd, später über der Tür an der äußeren Hauswand aufgehängt und diente als sichtbares Zeichen dafür, dass die Ernte zu Ende war.[25. Mannhardt, Wald, S. 197-198; vgl. Weber-Kellermann, Erntebrauch, S. 262.]
Außerdem gab es die Tradition des Ernte- oder Stoppelhahns – eines hölzernen Hahns, den man auf das geschmückten Fuder setzte.[26. Sartori, Volkskunde, S. 118.] Es konnte auch ein lebendiges Tier sein.[27. Borgeln, Schwefe, Schmallenberg. Mannhardt, Wald, S. 198.] Das Tier – wie auch das Fest – wurden dann »Stoppelhahn«, »Erntehahn« oder »Bauthahn« genannt.[28. Vom altsächsischen bewod = Ernte. Herringen, Brackel. Ebd.] Parallel dazu wurde beim anschließenden Fest auch ein lebendiger Hahn geschlachtet, zum Teil mit Peitschenhieben getötet oder unter einen Topf gesetzt und solange mit Schlägen bearbeitet, bis er tot war.[29. Sartori, Volkskunde, S. 119f.]
Weber-Kellermann führte die Ursprünge des Erntehahns auf die Zeit der Frondienste zurück, als Erntehelfer ihren Lohn in Form von Naturalien erhielten. Die ihnen zustehenden Garben markierte man durch eine senkrecht darauf gestellte Garbe, die als »Hahn« bezeichnet wurde. Weber-Kellermann vermutet, dass diese Bezeichnung dann zunächst auf die letzte Garbe übertragen wurde und schließlich auf den Kranz oder das Gebinde, welches das letzte Fuder schmückte und welches den Anspruch auf angemessenen Lohn symbolisierte.[30. Weber-Kellermann, Erntebrauch, S. S. 162, Anm. 345.]
Abschneiden der Kohlköpfe
Flächendeckend bekannt und berüchtigt war das Recht des »Kohlabschneidens«. Es wurde in fast allen Berichten aus Westfalen beschrieben, dass Schnitter und Erntearbeiter am letzten Tag der Ernte vor das Hoftor zogen und dort als Drohung damit begannen, die Sensen zu wetzen. Der Gutsherr oder Bauer musste ihnen Branntwein bringen und ein üppiges Erntemahl versprechen, andernfalls mähten sie die Kohlköpfe in dessen Garten ab.[31. Ebd., S. 266.]
Mannhardt deutete das Abschneiden der Kohlköpfe als »Mordsühne«. Der Bauer sei durch seinen Ernteauftrag an die Schnitter gewissermaßen »intellectueller Urheber der Tödtung des Korndämons« geworden, der nach mythischer Vorstellung als Naturgeist im Getreide lebte und durch die Ernte seiner Lebensgrundlage beraubt – also getötet worden war. Der Bauer musste sich daher von seiner Schuld loskaufen. Durch das Abmähen der Kohlköpfe wurde, so Mannhardt, »die Tödtung an ihm und seiner Familie symbolisch vollzogen«.[32. Wilhelm Mannhardt, Mythologische Forschungen. Aus dem Nachlasse von Wilhelm Mannhardt. Hg. von Hermann Patzig, Straßburg 1884, S. 31; vgl. Weber-Kellermann, Erntebrauch, S. 134-135.] Weber-Kellermann hielt diese Deutung für zu kompliziert. Sie ging eher davon aus, dass sich in der Erntetradition soziale Konflikte zwischen Gutsherren und Arbeitern sowie Forderungen nach gerechter Belohnung spielerisch widerspiegelten.[33. Ebd., S. 136.]
In ähnlicher Weise forderten Mägde Branntwein von der Hausherrin, der sie mit ihren Harken das Haar zu kämmen drohten.[34. Sartori, Volkskunde, S. 118.] Aus Herringen und Lünen ist bekannt, dass von Hausherr oder Hausfrau erwartet wurde, den Erntearbeitern mit einem »Labetrunk« entgegenzukommen. In Hilbeck knallte der Großknecht nach dem Einfahren des letzten Fuders auf dem Hof mit der Peitsche und forderte auf diese Weise sein Trinkgeld ein.[35. Weber-Kellermann, Erntebrauch, S. 266.]
Fest
Anschließend wurde gefeiert. »Es gab zu Essen, zu Trinken. Es wurde gesungen, getanzt und es wurden auch Witze erzählt und Spiele veranstaltet.«[36. Bericht zur Getreideernte, Osterbönen, 10.1967 (AVKW, MS02911).] Für alle auf dem Hof Versammelten gab es ein üppiges »Herrenessen«, bei dem in der Soester Börde Suppe und Fleisch in allen Variationen sowie alkoholische Getränke in riesigen Mengen erwartet wurden.[37. Weber-Kellermann, Erntebrauch, S. 267.] In Hattrop gab es Speck und Rühreier, Schnaps und Bier.[38. Bericht zur Getreideernte, Hattrop, 13.6.1957 (AVKW, MS01136).] Aus Hamm, Soest und Unna wurde auch von gebratenem Hahn berichtet.[39. Ausführlicher Bericht zur Getreideernte, Hemmerde, 20.5.1960-10.5.1969 (AVKW, MS01798).] Allgemein wurde ein fröhliches, ausgelassenes Fest mit Tanz auf der Deele gefeiert.[40. Bericht zur Getreideernte, Hattrop, 13.6.1957 (AVKW, MS01136); Bericht zur Getreideernte, Oestrich, 8.8.1955 (AVKW, MS00661); Bericht zur Getreideernte, Rheinermark, 10.6.1959 (AVKW, MS01540).]
Ein Bericht aus den 1950er Jahren beschreibt, wie Harkemai auf einem Hof in Osterbönen Anfang des 20. Jahrhunderts gefeiert wurde: »In der Wohnstube wurde ein langer Tisch gedeckt, an dem alle, die an der Einbringung der Ernte teilhatten, einen Platz hatten. Auch Leute, die nicht direkt an der Ernte beteiligt waren, wie z.B. der Melker, waren eingeladen. Das Fest begann gegen 19 Uhr mit einem Essen. Dieses bestand meistens aus zünftiger bürgerlicher Kost mit Vorsuppe und Nachtisch. Nach dem Essen wurden Getränke gereicht, die durchweg aus Bier und Schnaps bestanden. Erst in den späteren Jahren kamen andere Getränke hinzu. Man blieb am Tisch sitzen und lachte und scherzte. Die jüngeren Leute gingen in die Küche, wo der Tisch beiseite geschoben wurde, um Platz für verschiedene Gesellschaftsspiele zu schaffen. Ein Mann mit einem Akkordeon sorgte für Musik. In den späteren Jahren schaltete man das Radio ein oder stellte einen Schallplattenapparat auf. Ab und zu wurde getanzt. Das Fest ging bis ca. 1 Uhr nachts.«[41. Bericht zum Harkemai, Osterbönen, 15.6.1957 (AVKW, MS05730).]
Durch schlechte Ernteleistungen oder grobe Fehler konnte sich das üppige Essen allerdings schnell schmälern. Hatten die Erntehelfer ein Fuder umgeworfen, so bekamen sie, wie aus Hilbeck überliefert ist, keine Hühnersuppe – oder die Mahlzeit fand gar nicht statt.[42. Weber-Kellermann, Erntebrauch, S. 262f.]
Mythische Wurzeln
Mannhardt wies nach, dass die Harkemaitradition sich auf die Verehrung von germanischen Naturdämonen in vorchristlicher Zeit zurückverfolgen lässt. Maibaum und Harkemaibaum stehen nach seiner Anschauung in enger Verbindung.[43. Mannhardt, Wald, S. 208-210.] Der Harkemaibaum oder Erntemai ist demnach als »begeistetes persönliches Wesen«[44. Ebd., S. 212.] zu verstehen – als Verkörperung des Korn- oder Vegetationsdämons in vielerlei Gestalt. Er wird nicht nur in Menschengestalt gedacht (»der Alte« in Form der letzten Garbe), sondern auch in Tiergestalt (»Bauthahn« oder »Stoppelhahn«). Die Landbevölkerung hatte die Vorstellung, »der Dämon der Vegetation ziehe sich beim Schneiden des Ackerfeldes immer tiefer in dasselbe zurück und komme schließlich in den letzten Halmen, die geschnitten werden, resp. der letzten Garbe, die gebunden wird, zum Vorschein.«[45. Ebd.; vgl. Wilhelm Mannhardt, Roggenwolf und Roggenhund. Beitrag zur germanischen Sittenkunde, Danzig 1865, S. 20.] Daher galt die sogenannte »Bautgarwe«[46. Mannhardt, Wald, S. 213.] als wichtigste Garbe der gesamten Ernte. Sie war zugleich Grundlage für das Gedeihen der Aussaat im folgenden Jahr.[47. Ebd.] Dies zeigte sich in der Sitte, »die Körner der letzten Garbe oder des Erntekranzes gesondert aufzubewahren und unter das erste Saatgetreide zu mischen.«[48. Ebd.] Harkemai war »die Gewähr eines guten Gedeihens der neuen Aussaat.«[49. Ebd.]
Auch die Sitte, die letzte Garbe, den Erntekranz oder diejenigen, die sie tragen, mit Wasser zu übergießen, ist demnach als Vorsorge für die Zukunft – als eine Art Regenzauber – zu verstehen. Nach Mannhardt »sind sich die Ausüber dabei noch ganz klar und bestimmt der Absicht bewußt und sprechen sie aus, auf diese Weise hinreichenden Regen auf die Saat des nächsten Jahres herabzulocken; geschähe das nicht, so werde nach ihrer Meinung die Feldfrucht an Dürre zu Grunde gehen.«[50. Ebd., S. 214.]
Das Anbringen des Erntekranzes oder der letzten Garbe an Tor oder Scheune verkörpere den »Wunsch, daß das Numen[51. Numen ist eine göttliche, auf Mensch und Natur einwirkende Kraft.] der Vegetation auch über der Weiterfortpflanzung der in der Scheune geborgenen Nährfrucht segnend wachen und walten möge. Von dem Boden dieser Anschauungen aus erklärt sich auch das ungewöhnliche Hervortreten der Frauen in den Bräuchen des Erntemai. Vertritt derselbe nämlich das lebengebende Princip des Kornwachstums, so muß, um diesen vollständig darzustellen, auch noch das empfangende, hervorbringende zur symbolischen Abbildung gelangen.«[52. Ebd., S. 216.] Auch die schützende Kraft des Vegetationsgeistes wird erbeten, indem die Garbe oder der Kranz an der Tür oder auf der Deele des Herrenhauses befestigt wird, damit »das Numen der Vegetation die Tiere und Menschen frisch und gesund und bei zunehmendem Gedeihen erhalte.«[53. Ebd., S. 218.]
Der Harkemai, so Mannhardt, gebe seine Eigenschaft »als ein Gegenstand wahrhaft religiöser Beehrung, als Verkörperung eines Numens dadurch kund, daß die Schnitter um ihn […] niederknien und ein Gebet verrichten […], denn diese Sitte sieht nicht wie ein christlicher Zusatz zum alten Brauche aus.«[54. Ebd.]
Der ursprünglich heidnische Erntebrauch ist zum Teil christianisiert worden, behielt aber – wenn auch unbewusst – viele Elemente der kultischen Verehrung und der Naturreligion bei.
Schluss
Harkemai ist als Erntebrauch in den 1950er Jahren verloren gegangen. Ausschlaggebend hierfür war die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende rasante Mechanisierung der Landwirtschaft. Die Getreideernte war hiervon besonders betroffen. Durch die Einführung des Mähdreschers konnte das Dreschen des Getreides – bislang Herbst- und Winterarbeit – in einem Arbeitsgang direkt während des Schnitts auf dem Feld erledigt werden. Während in der Bundesrepublik 1950 nur rund 1.000 Mähdrescher im Einsatz waren, wuchs der Bestand bis 1984 auf 139.000. Die Erntemaschinen waren nun Selbstfahrer, ihre Motorleistung stieg um mehr als 4 % jährlich und die Schnittbreite vervierfachte sich von 1,50 Metern im Jahr 1950 auf über 6 Meter in den 1980er Jahren.[55. Klaus Herrmann, Die Veränderung landwirtschaftlicher Arbeit durch Einführung neuer Technologien im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 28 (1988), S. 203-237, hier S. 207.] Hatten in den Jahrzehnten zuvor noch ganze Heerscharen von Schnittern, Erntehelfern und Dreschern am sich über Wochen und Monate hinziehenden Ernteprozess mitgewirkt, so wurde die Getreideernte ab den 1950er Jahren mehr und mehr zur Sache weniger.[56. Vgl. ebd., S. 208-209.] Sie war »keine gemeinschaftliche Arbeit mehr«.[57. Ebd., S. 230.]
Zum Vergleich: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schaffte ein Schnitter gemeinsam mit einer Abrafferin bei günstigen Bedingungen etwa 5 ar in der Stunde. Mit einer gespanngezogenen Mähmaschine mit Handablage bewältigten zwei Männer in der gleichen Zeit etwa 30 bis 35 ar.[58. Ebd., S. 211.] Dabei handelte es sich wohlgemerkt allein um den Schnitt. Heute vermag eine Person auf dem Mähdrescher einen Hektar in maximal einer Stunde abzuernten, was vor 100 Jahren »gut und gerne vier ganze Arbeitstage von morgens bis abends« dauerte.[59. Ebd.]
In einem Bericht aus Osterbönen zum Harkemai heißt es: »Mit dem Einsatz von Mähdreschern ging auch der Brauch unter. Man wußte nicht mehr so recht, ob der letzte Sack Getreide oder das letzte Fuder Stroh einen Anlaß zum Feiern geben sollten. Auf meinem Elternhof in Bönen-Osterbönen wurde im Sommer 1954 der ›Harkemai‹ letztmalig gefeiert.«[60. Bericht zum Harkemai, Osterbönen, 15.6.1957 (AVKW, MS05730).]
Mit dem Wegfall des arbeitsintensiven Schneidens und Einfahrens der Getreidefuder geriet auch die Harkemai-Tradition in Vergessenheit – bis sie 1987 in neuer Form wiederbelebt wurde und seitdem jährlich vom Verein »Landliäben« in Berge, Freiske und Rhynern wieder gefeiert wird.
Dieser Text wurde zuvor bei Landliäben veröffentlicht.
Quellen und Literatur
Archiv der Volkskundlichen Kommission für Westfalen (AVKW)
Mannhardt, Wilhelm, Die Korndämonen. Beitrag zur germanischen Sittenkunde, Berlin 1868.
Mannhardt, Wilhelm, Mythologische Forschungen. Aus dem Nachlasse von Wilhelm Mannhardt. Hg. von Hermann Patzig, Straßburg 1884.
Mannhardt, Wilhelm, Roggenwolf und Roggenhund. Beitrag zur germanischen Sittenkunde, Danzig 1865.
Mannhardt, Wilhelm, Wald- und Feldkulte. Bd. 1: Der Baumkultus der Germanen, 2. Aufl., Berlin 1904.
Sartori, Paul, Sitte und Brauch, Leipzig 1911.
Sartori, Paul, Westfälische Volkskunde, 2. Aufl., Leipzig 1929.
Weber-Kellermann, Ingeborg, Erntebrauch in der ländlichen Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts. Auf Grund der Mannhardtbefragung in Deutschland 1865, Marburg 1965.
Herrmann, Klaus, Die Veränderung landwirtschaftlicher Arbeit durch Einführung neuer Technologien im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 28 (1988), S. 203-237.
Titelbild
Harkemai auf dem Hof Kleberg Anfang der 1950er Jahre. Foto: Privatbesitz Frölich.